Nachwahtaktik oder Kehrtwende?

[Martina]

Ein Kommentar von Murat Yetkin, Hurriyet Daily News

Ministerpräsident Tayyip Erdoğan hat einen klaren Sieg in den Parlamentswahlen errungen, aber im Gegensatz zu früheren Wahlsiegen scheint er seine Taktik geändert zu haben: von einer übertriebenen Feier und Reden mit bitterer Rhetorik keine Spur.
Stattdessen scheint er zumindest im Moment seine Versprechen in einer Siegesrede zu halten, dass jetzt „die Zeit für gegenseitige Vergebung gekommen sei“ . Am Mittwoch zog er alle Gerichtsverfahren er gegen Journalisten, Schriftsteller und Politiker wegen Beleidigung zurück. Nach der Wahlnacht hielten viele Politiker und hohe Beamte sich auffällig zurück mit Interviews in den Medien und Siegesmeldungen. . Dies kann nur mit einer strengen Richtlinie von Erdoğan möglich sein, wie kenner der türkischen Politik bestätigen.

Ein nicht genannt werden wollender Berater der Regierung sagte, dies sei als Abkühlung der überhitzten politischen Atmosphäre während des Wahlkampfes gedacht. In Verbindung mit der Zurückziehung der Gerichtsverfahren, sei der Verzicht auf weitere Agitation wohl auch damit zu erklären, dass sich die Regierung auf eine große Debatte zur Verfassungsreform mit den Oppositionsparteien vorbereitet, ins besondere mit der Republikanischen Volkspartei, der CHP. Ein Hauptgrund sei, so der Berater, dass sich Erdogan nicht auf die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Parlament stützen könne. Es sei ein Aufruf an die gesamte Gesellschaft, um einen möglichst breiten Konsens zu erreichen.

Hüseyin Çelik, einer der stellvertretenden Vorsitzenden der AK Parteii, hat bereits einen ungefähren Zeitplan für die neue Verfassung erarbeitet. Er sagte, die Verhandlungen würden offiziell am 01. Oktober, nach der Eröffnung der neuen Wahlperiode des Parlaments nach der Sommerpause beginnen. Das Parlament wird kurzzeitig für die Vereidigung der neu gewählten Mitglieder geöffnet werden. Nach der Vertrauensabstimmung über das neue Kabinett wird die Sitzung bis zum Herbst geschlossen werden. Çelik sagte, das wäre genug Zeit für alle Beteiligten, für die neue Verfassung Modelle zu erarbeiten, über die dann beraten werden kann.

Die CHP ist ein seriöser Partner für die AKP für wichtige politische Projekte wie die Äenderung und Neufassung der Verfassung, um einen akzeptablen Konsens für eine breite gesellschaftliche Zustimmung zu finden. Die Partei für Frieden und Demokratie, die BDP, ist stärker fokussiert auf die Rechte der Kurden, könnte auf den ersten Blick ein einfacher Partner für Erdoğan sein, aber eine solche Partnerschaft, die sowohl die CHP und die MHP nicht mittragen üwrden, kann dazu führen, dass neue Bruchlinien in der politischen Arena der Türkei erscheinen. Es kann einen Schatten über die neue Verfassung werfen. Es könnten Zweifel entstehen, ob die Regierung im Gegenzug für das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem Rechte für die Kurden als Gruppe und nicht individuelle Rechte durchsetzen möchte. Das Ziel sollte sein, eine Entscheidung zu treffen wie in den Jahren 2002 – 2005, wo erforderliche Gesetzesänderungen im Zuge der EU-Harmonisierung reibungslos und mit breitem Konsens über die Bühne gingen.
Die CHP lehnte einen solchen Konsens jedoch 2008 unter ihrem früheren Vorsitzenden ab, was der aktuelle Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu bedauert. Er sicherte in einer Rede nach der Wahl zu, dass die CHP einen Beitrag zur neuen Verfassung leisten würde.
original: http://www.hurriyetdailynews.com/n.php?n=erdogan8217s-post-election-tactic-on-constitution-2011-06-16