Die Eskalation der Besinnlichkeit
28.Oktober
Tja da bin ich nun wieder. Gestern noch um 7 Uhr früh auf der Terrasse bei 22 Grad gefrühstückt und den Ausblick aufs Meers genossen und heute wieder in Dunkeldeutschland. Doch allen Unkenrufen zum Trotz herrscht heute an meinem letzten Urlaubstag
schönstes Spätherbstwetter. Sonnig, windstill, 14 Grad warm. Ein Hauch von Wehmut und Abschied liegt in der Luft. Man riecht den vergangenen Sommer, eine Ahnung von der nahenden Winterkälte schwingt mit. - Noch einmal eine Vielzahl von Menschen am Rheinufer, die die Sonne geniesssen. War das ein Urlaub und nun wie aus dem Nichts sind wir bald bei St. Martin. Ich schlendere am grossen Fluss entlang, dem Vater aller Flüsse, dem mächtigen Rhein und lenkte meinen Schritt durchs Neutor in die Innenstadt.
Bisher keine besonderen Vorkommnisse in der Schlossstraße. Dann plötzlich um 14:47 Uhr kommt der Befehl von Aldi-Geschäftsführer Erich B.: "5 Paletten Lebkuchen und Spekulatius in den Eingangsbereich!" Von nun an überschlagen sich die Ereignisse. Zunächst reagiert Minimal-Geschäftsführer Martin O. eher halbherzig mit einem erweiterten Kerzensortiment und Marzipankartoffeln an der Kasse.
15:07 Uhr: Edeka-Marktleiter Wilhelm T. hat die Mittagspause genutzt und operiert mit Lametta und Tannengrün in der Wurstauslage.
16:02 Uhr: Die Filialen von Penny und Reichelt bekommen Kenntnis von der Offensive, können aber aufgrund von Lieferschwierigkeiten nicht gegenhalten und fordern ein Weihnachtsstillstandsabkommen bis zum 1. November. Die Gespräche bleiben ohne Ergebnis.
16:41 Uhr: Im Eingangsbereich von Karstadt bezieht überraschend ein Esel mit Rentierschlitten Stellung, während 2 Weihnachtsmänner vom studentischen Nikolausdienst vorbeihastende Schulkinder zu ihren Weihnachtswünschen verhören. Zeitgleich erstrahlt die Kaufhausfassade im gleißenden Schein von 260.000 Elektrokerzen. Die geschockte Konkurrenz kann zunächst nur ohnmächtig zuschauen. Immerhin haben jetzt auch Wertheim, Stüssgen und Minimal den Ernst der Lage erkannt.
17:04 Uhr: Edeka setzt Krippenfiguren ins Gemüse.
17:12 Uhr: Minimal kontert mit massivem Einsatz von Rauschgoldengeln im Tiefkühlregal.
17:25 Uhr: Bei Reichelt verirren sich dutzende Kunden in einem Wald von Weihnachtsbäumen.
17:32 Uhr: Neue Dienstanweisung bei Stüssgen: An der Käsetheke wird mit sofortiger Wirkung ein "Frohes Fest" gewünscht. Die Schlemmerabteilung von Wertheim kündigt für den Nachmittag Vergeltungsmaßnahmen an.
17:39 Uhr: Karstadt schaufelt Kunstschnee in die Schaufenster.
18:00 Uhr: In einer eilig einberufenen Krisenversammlung fordert der aufgebrachte Penny-Geschäftsführer Walter T. von seinen Mitarbeitern lautstark: "Weihnachten bis zum Äußersten" und verfügt den pausenlosen Einsatz der von der Konkurrenz gefürchteten CD: "Weihnachten mit Mireille Matthieu" über Deckenlautsprecher.
18:10 Uhr: Anwohner der Schlossstraße versuchen mit Hilfe einer einstweiligen Verfügung die nun von Wertheim angedrohte Musikoffensive "Heiligabend mit den Flippers" zu stoppen.
18:14 Uhr: Ein Aldi-Sattelschlepper mit Pfeffernüssen rammt den Posaunenchor "Adveniat", der gerade vor Karstadt zum großen Weihnachtsoratorium ansetzen wollte.
18:30 Uhr: Aldi dementiert. Es habe sich bei der Ladung nicht um Pfeffernüsse, sondern Christbaumkugeln gehandelt.
18:45 Uhr: In der Stadt kommt es kurzfristig zu ersten Engpässen in der Stromversorgung als der von Tengelmann beauftragte Rentner Erwin Z. mit seinem Flak-Scheinwerfer Marke "Varta Volkssturm" den Stern von Bethlehem an den Himmel zeichnet.
Die Fronten verhärten sich; die Strategien werden zunehmend aggressiver.
19:07 Uhr: Auf einem Polizeirevier meldet sich die Diabetikerin Anna K. und gibt zu Protokoll, sie sei soeben auf dem Stüssgen-Parkplatz zum Verzehr von Glühwein und Christstollen gezwungen worden. Die Beamten sind ratlos.
19:10 Uhr: Seit gut einer halben Stunde beschießen Karstadt, Edeka und Minimal die Einkaufszone mit Schneekanonen. Das Ordnungsamt mahnt die Räum- und Streupflicht an. Umsonst!
19:30 Uhr: Teile des Stadtbezirks sind unpassierbar. Eine Hubschrauberstaffel des Bundesgrenzschutzes beginnt mit der Bergung von eingeschlossenen. Menschen wie Du und ich, die nur noch einmal in der schönen Herbstsonne bummeln wollten.